Wo stehen wir heute?
Im «Denken» kurz vor einem Kipppunkt. Viele Firmen arbeiten bereits jenseits dieses Kipppunktes, die Netzbetreiber überlegen sich derzeit fieberhaft, wie die Welt nach dem Kipppunkt aussehen könnte. Und sie wünschen sich mehr Zeit, um Lösungen zu entwickeln. Aber wenn sie die Zeit hätten, glaube ich, würde wieder genauso wenig passieren wie vor zehn Jahren. Der Wissensstand damals war nicht viel tiefer als heute. Nur der Druck war geringer. Um die Frage konkret zu beantworten: Wir sind irgendwo zwischen 20 und 40 Prozent.
Wo liegen die Hürden auf dem Weg zu 100 Prozent?
Die grösste Hürde ist, dass sich so vieles gleichzeitig ändern muss. Technologien, Prozesse, Gewohnheiten. Jedes einzelne Element ist weitgehend bekannt, (technische) Lösungen gibt es inzwischen viele. Aber in einem System so viele Parameter gleichzeitig zu verändern, birgt grosse Risiken für unerwünschte Nebenwirkungen.
Sie sprechen von kritischen Netzkomponenten: Welche sind das?
Technisch gesehen ist es meist ein Kabel oder eine Trafostation, die an die Belastungsgrenze stösst und deshalb als kritisch betrachtet werden kann. In einem nächsten Schritt werden es wohl eher IT-Systeme sein, welche die Achillesferse der Energieversorgung darstellen. Auch im Verteilnetz und auf der untersten Netzebene, wo derzeit noch praktisch nichts automatisiert ist.
Welche Weichen müssen heute gestellt werden, damit es klappt?
Es gibt drei Erkenntnisse, die meines Erachtens in jedem Zukunftsszenario stimmen:
- Es wird sehr viel mehr Photovoltaikanlagen am Netz geben.
- Unabhängig vom Masse des Netzausbaus: Die Spitzenleistung der PV-Anlagen wird das Netz respektive das System nicht aufnehmen können.
- Dezentrale Verbraucher und Speicher sind die neue Flexibilität im Netz.
Nimmt man diese drei Punkte als gegeben, kann man etliche Schritte in die richtige Richtung gehen. Klar wissen wir heute noch nicht, welches System, welches Kommunikationsprotokoll oder welche Schnittstellen sich durchsetzen werden. Wir wissen aber, dass Batteriespeicher so betreiben werden müssen, dass sie das Netz und das Gesamtsystem entlasten. Also müssen wir Systeme bauen, die damit umgehen können. Im Wissen darum, dass es wohl noch das eine oder andere Update braucht, bis die Systeme in einen neuen «Normalzustand» überführt werden können.
Was verstehen Sie unter neuer Flexibilität?
Früher haben die Endverbraucher den Strom dann vom Netz bezogen, wenn sie die Energie benötigt haben. Die Wasserkraftwerke haben flexibel geliefert. In Zukunft kehrt sich dies teilweise um. Photovoltaikanlagen produzieren dann, wenn die Sonne scheint. Speicher und Verbraucher, die wir ohne Komfortverlust zu unterschiedlichen Zeiten betreiben können, sind die neue Flexibilität. Erstens sind die klassischen thermischen Speicher und Verbraucher wie Boiler oder Wärmepumpen. Zweitens sind das vermehrt neue Verbraucher wie Ladestationen für die Elektromobilität. Und drittens sind das stationäre Batteriespeicher, deren Flexibilität Selbstzweck ist und die keine direkten Synergien mit einem anderen Bedürfnis haben.
Wie hängen Flexibilitäten und Intelligenz im Stromsystem zusammen?
Das ist eine sehr schwierige Frage. Und es ist eine der Fragen, die derzeit für viel Unmut sorgt. Netzbetreiber würden wohl antworten, der einzige Daseinszweck einer Flexibilität sei, dem intelligenten Netz zuzudienen. Entsprechend entwickeln sie ihre Visionen eines Smart Grids.
Was antworten Sie?
Für mich ist dies eine der noch offenen Fragen: Es sind durchaus auch Systemarchitekturen denkbar, in denen die Netze nicht besonders auf Intelligenz getrimmt werden, bei denen die ganze Intelligenz dezentral in den Prosumern liegt. Das wäre im Gesamtsystem vermutlich weniger effizient als ein voll integriertes Smart Grid. Aber es entspricht in vielen Punkten dem Status Quo: Der Netzbetreiber kennt sein Netz zu wenig gut und erlaubt deshalb nur eine konservativ tiefe Einspeisung. Der Anschlussnehmer baut sich ein intelligentes System mit Speicher und optimiert sich innerhalb der zulässigen Rahmenbedingungen. Das tönt beschränkt ist aber effektiv ein grosser Schritt nach vorne, ohne dass das fehlende Smart Grid die gute Lösung ausgehebelt hätte.
Das wirft die Frage nach der Standardisierung auf. Wie hängt diese mit der Innovation zusammen?
Es ist eine Hassliebe. Im ersten Moment ist Standardisierung der grösste Feind der Innovation. Ohne Standardisierung kann jedoch die Innovation kaum Wurzeln schlagen. Die Standardisierung sollte sich aus meiner Sicht so lange zurückhalten, bis eine gute Lösung gefunden ist. Dann soll sie so schnell wie möglich die Grundlagen liefern, damit sich alle auf die gute Lösung verlassen können.
SmartGridready strebt mit seinen Labels ein gewisser Grad an Standardisierung an.
Das ist eine grosse Aufgabe. Die Standardisierung ist ein Milizsystem, in dem alle nur das tun, das sie selbst weiterbringt. Längerfristig bringt dies die besten Lösungen hervor. Es ist aber eine denkbar schlechte Organisationsform, um einen Masterplan voranzutreiben. Deshalb bin ich überzeugt, dass es unter dem Strich heute die beste Lösung ist, wenn alle nach Kräften anpacken und ihr Spezialgebiet vertreten und vorantreiben. Fehler und Defizite werden so on the job entdeckt und korrigiert.
Welche Rolle spielt SmartGridready?
SmartGridready befindet sich in einem schwierigen Balance-Akt zwischen Innovation und Standard. Ist SmartGridready eine Versicherung für all diejenigen, die nichts falsch machen wollen? Oder ist es eher die Wette auf einen Early Mover, der die Zeichen der Zeit erkannt hat und mit etwas Glück ganz gross herauskommt? Vermutlich ein bisschen von beidem.
Anders gefragt: Welche Rolle sollte SmartGridready spielen?
Auch SmartGridready soll das tun, was es am besten kann, und zwar schnell. Der Verein soll pragmatisch Lösungen vorschlagen und diese im Rahmen von Pilotprojekten demonstrieren. Firmen sollen aufspringen, weil sie sich damit Vorteile erhoffen. Wenn es SmartGridready gelingt, die Leute zu überzeugen, dass sie mit ihren Labeln schneller zum Ziel kommen, dann wird es sich durchsetzen können.